Mittwoch, 3. September 2008

Sihltaler Texte





Reisegeschichte

Man würde ja meinen, man lasse die Gefahr hinter sich, wenn man vom Flughafen Mexico City abhebt. Die ganze Verschmutzung, die Kriminalität, all die unbeleuchteten Trottoirs: ich war mir sicher, ich würde mit dem Flug Richtung Heimat sicheres Territorium anstreben.
Tatsächlich aber fand ich mich nur wenige Stunden später eingesperrt in einem Zimmer. Um mich herum sassen Leute aller Herkunft und fürchteten genauso wie ich das Schlimmste. Und ebenso wie ich brüteten sie wahrscheinlich über der selben Frage: warum in aller Welt musste ich via USA fliegen?
Nun würde ich zwar auf meinem Weiterflug in die Schweiz zwischen 15 Filmkanälen auswählen können, aber würde ich diesen Flug überhaupt erreichen? Die zwei Beamten, die für die nähere Untersuchung von uns eingesperrten zuständig waren, guckten immer wieder mit eisernem Blick hinter ihren Bildschirmen hervor, um in unserer Gruppe wohl ein verdächtig verhaltendes Individuum auszumachen.
Fast wäre ich der Prozedur entgangen. Schon wurde ich durchgewinkt, da rannte mir die Zöllnerin nach und pfiff mich zurück mit der schwammigen Begründung, dass etwas mit meinem Fingerabdruck nicht stimmte. Es stellte sich heraus, dass mein Fingerabdruck gegenüber dem letzten USA Besuch eine veränderte Strucktur aufzeigte, weil ich tags zuvor einen Haufen Geschirr gewaschen hatte. Als ich endlich entlassen wurde, konnte ich nur durch eine sportliche Höchstleistung verhindern, dass mir der Anschlussflug entwischte.
Eine Entschädigung für mein Erlittenes fand ich beim Auspacken in meinem Koffer in Form von Gegenständen aus dem Gepäck eines Mexikaners, dessen Koffer wohl während der Inspektion neben meinem gelegen hatte. Oder war dies die Entschädigung dafür, dass auch aus meinem Koffer das Nécessaire verschwunden war und nun von einem Mexikaner in seinem Koffer vorgefunden wurde? Ein trauriger Verlust. Zumal die gebräunten Mexikaner ja mit meiner hellbeigen Foundation gar nichts anfangen können.
Umso besser sollte ich mich für die Rückreise vorbereiten. Doch schon die schweizer Angestellten der Airline am Check-in Schalter konfrontierten mich mit der ersten Überraschung. Sie wohnen wohl in Mexico, was? Fragte man mich äusserst kritisch. Weshalb ist dann hier kein Visum in ihrem Pass? Durch meine Antwort zwar nicht befriedigt, liess man mich immerhin ausfliegen.
Natürlich hatte ich schon Tage vor dem Abflug genauestens aufgepasst, dass meine Hände am Tag vor Abflug mit keinem Tropfen Wasser in Berührung kamen. Dummerweise stellte sich dies als genau die falsche Methode heraus, da die Amerikaner inzwischen meinen verschrumpelten Abdruck im PC hatten und mich abermals in ihre Folterkammer schickten.
Ich war gottenfroh als ich Stunden später endlich wieder auf mexikanischem Boden landete. Von allen Zöllnern meiner Reise war die dortige Beamtin scheinbar am frohsten, mich zu empfangen.











Wisch-Mädchen

Den meisten Schweizer Reisenden fällt in Lateinamerika als erstes die prekäre Müllsituation auf. Pet-Flaschen liegen am Strassenrand, Scherben pflastern die Trottoirs und Plasticksäckchen werden vom Wind bis in die Baumwipfel geblasen.
Man könnte meinen, dass Latinos eine höhere Reizgrenze für Schmutz haben, die Situation weniger tragisch sehen als wir oder vielleicht sogar Schmutz- und Müllresistent sind.
Tatsächlich habe ich die Mexikaner als höchst reinliche, ja putzfanatische Zeitgenossen kennen gelernt. Sie tragen stets frische Kleidung, waschen einmal pro Woche ihr Auto und wischen mehrmals täglich ihren Vorplatz. Eigentlich ist Wischen ein regelrechtes Hobby der Mexikaner. Anlass dafür ist in der Stadt ja nicht rar: Der Wind wirbelt Staub auf und dürre Blätter auf den Gehweg, derRegen schwemmt Dreck an und viele unachtsame Passanten werfen einem den Müll vor die Haustüre.
Zur Verteidigung eben Genannter muss ich anfügen, dass selbst in der Stadt ein öffentlicher Mülleimer schwieriger zu finden ist als ein geflügeltes Pferd. Die Abfallpolitik der Stadt steht im strengen Gegensatz zum Sauberkeitsbewusstsein ihrer Einwohner. Hätte die Stadt dieselbe Putzdisziplin wie ihre Bewohner, würde sie vor Reinheit geradezu blitzen.
Stadt dessen transportieren die Müllautos den Dreck nur bis kurz vor die Stadt, wo er als stinkender Berg dahinmodert. Aus eigenem Augenschein weiss ich das zwar nicht, denn in diese „Abfallzone“ wird niemand hereingelassen, der nicht dort wohnhaft ist. Zu gross ist die Angst, ein Medienschaffender könnte sich einschleichen und über die verheerenden Zustände berichten.
Höchste Zeit also, dass jemand reinlicher das Abfalldepartement der Stadt übernimmt. Sehr gut geeignet wären da einige meiner Nachbarinnen, die mit ihrem Putzeifer selbst meinen genetischen Schweizer Sauberkeitsfimmel übertreffen. So werde ich morgens vom Geräusch des Besens geweckt und werde nachts damit in den Schlaf gewischt. Da die Wischmädchen öfters zu Hause sind als ich, komme ich erst gar nicht dazu, meinen Vorplatz zu wischen, weil dieser während des Tages von der Nachbarin links und jener rechts gleich mitgewischt wird.
Auch nach jedem Regenguss wird gewischt. Meistens werde ich durch das allgemeine Wischgeräusch darauf aufmerksam gemacht, dass der Regen nachgelassen hat. Doch auch ohne Regen wird mindestens einmal täglich nass aufgewischt. Auf der Strasse läuft man deshalb Gefahr, von einem eifrigen Ladeninhaber abgespritzt zu werden, weil er gerade den Eingang staubfrei waschen will.
So sind Mexikaner geradezu vorbildlich im Ausfegen. Bleibt zu hoffen, dass sie dies eines Tages auch mit der Politik tun können.






10 pesos le cuesta

Zweifelsohne ist die Metro in Mexico City besser als jedes andere Verkehrsmittel. Keine Verkehrslichter, keine Staus oder Absperrungen behindern ihre Fahrt. Wählt man die Metro, um ans andere Ende der Stadt zu kommen, so wird die 20 Millionen-Stadt mit 40 Minuten derart rasch durchquert, dass man sich im 7ni Tram nach Stettbach wähnt.
Mit zweiminütiger Frequenz treffen die Züge ein, öffnen für 30 Sekunden ihre Türen, um die Fahrt schnellstmöglichst wieder aufzunehmen. Das Tempo wird derart beschleunigt, dass man regelmässig über die ganze Sitzbank rutscht, bis man sich mit den anderen Passagieren am Ende der Bank auf einem Haufen wieder findet.
Doch die Metro ist nicht blosses Transportmittel, denn. einfallsreiche Arbeitslose haben die U-Bahn als kaufkräftigen Marktplatz entdeckt und preisen in Massen ihre Waren an. Am verbreitetsten sind selbstgebrannte CDs, auf denen jeweils Musik zu einem Thema zusammengestellt ist. Eine Kostprobe der angepriesenen Soundträgern dröhnt aus gewöhnlich viel zu laut aufgedrehten Lautsprechern, welcher der Händler mit sich trägt.
Daneben wird von Süssigkeiten über Taschentücher bis zu spirituellen Lebensratgebern alles angeboten, was in eine Handtasche passt. Kaum ist ein Händler mit Halspastillen an einem vorbeigezogen, folgt der nächste mit Kugelschreibern. Für jeden Geschmak ist etwas dabei, man muss nur zugreifen und somit präsentiert sich jeder Metrozug als gewaltige, 30 Meter lange Sushi-Bar.
Ich selber, immer bemüht, mich an die mexikanische Lebensweise anzupassen, reihe mich selbstverständlich mit ein in die kaufkräftige Kundenschaar der Metrohändler. Den Piraten-CDs traue ich nicht richtig; erst vor ein paar Tagen hatte ich eine gebrannte Dokumentations-DVD über Mexiko erstanden, die dann aber nicht abgespielt werden konnte. Bei Frauenmagazinen hatte ich auch einst zugegriffen, bis ich merkte, dass es sich um die Ausgabe vom vergangenen Monat handelte. Seither beschränke ich mich darauf, Taschentücher im Dreierpack zu erstehen. Entscheidet man sich, etwas zu kaufen, so muss man schnell handeln. Nur Sekunden verweilen sie auf der selben Stelle, oft nur solange, bis sie ihr Produkt feilgeboten und den Preis ausgerufen haben: „10 Pesos kostets, 10 Pesos, Herrschaften“. Seltsamerweise kosten die meisten Waren 10 Pesos, was ungefähr dem Betrag gleichkommt, welcher der metroreisende Mexikaner in der Jackentasche mitträgt. Und dort sollte man das Geld auch herauskramen, denn bis man das Portemonnaie aus der Tasche gegraben hat, ist der Händler bereits im übernächsten Wagen. Wechseln ist auch keine Stärke der Metroverkäufer. Hat man das Münz nicht korrekt, so ist der Deal geplatzt.
Und so wird jede Fahrt in der Metro zum kribbelnden Erlebnis. Hätte man beim Einsteigen gedacht, dass man mit dem spanischen Heidi-Film wieder aussteigt?
















Familienbande
In unseren Kindertagen bescherte es uns Stunden des Grübelns: das Geheimnis, wie Mary Poppins den zwei Meter hohen Kleiderständer aus der kleinen Tasche zaubern konnte.

Ähnlich verblüfft war ich, als ich bei meiner Freundin Ana zum Brunch eingeladen war. Kamen dort doch derart viele Leute verschlafen aus den oberen Stockwerken, dass ich mich fragte, ob sie wohl im Schichtbetrieb geruht hatten. In einer unachtsamen Minute hatte mir die kleine Nichte meinen Saft ausgetrunken und mehrere Verwandte bedienten sich ungefragt an unserem Kuchen. Die Kinder spielten Fangen um den Tisch herum und der Vater belehrte mich über dem Essen über die historische Entwicklung der mexikanischen Politik. Ich musste an die Ausnahmesituationen bei mir zu Hause denken, wenn lediglich meine Grosseltern bei uns übernachteten.
Ich wuchs in einem Haus auf, dass für eine Familie mit einem Kind konstruiert war. Der Architekt hätte hierzulande wohl kaum Anstellungschancen. Nicht nur, dass die Einkindfamilie hierzulande wohl so selten ist wie natürliches Blond; wohnen doch mindestens noch die vorherige und die nachfolgende Generation unter demselben Dach. Dementsprechend muss der Wohnraum geschickt unterteilt sein, denn volumenmässig unterscheidet sich das mexikanische Multigenerationenheim kaum vom Dreinasenhaus meiner Kindheit.
Acht Personen unter einem Dach und alle lebten in friedlicher Koexistenz. Die Eltern respektierten ihre erwachsenen Kinder, sorgten sich um die Enkelkinder und für die Unterhaltung hatten die Grosseltern stets die passende Geschichte aus ihrer Jugendzeit parat. Ausser den Familienmitgliedern gingen täglich natürlich ein Haufen zusätzlicher Leute ein und aus. Onkel, Schwägerinnen, Schulfreunde und bereits Ausgezogene werden im Mexikanischen Haushalt zu jeder Uhrzeit gerne empfangen und nach Möglichkeit sogleich verköstigt. Ein idyllisches Bild, dass die warmherzigen Mexikaner Realität werden liessen.

Mein romantisches Bild sollte nicht lange wahren; äusserten sich doch die Frühstücksgäste, dass sie von der europäischen Tradition gehört hatten, man würde drüben mitte Zwanzig ausziehen. Ich wollte schon meine Heimatkultur verteitigen, als mir in verzweifelter Sehnsucht die ideale Wohnsituation entgegengeschnellt wurde: Im Chor schwärmten sie mir von einem unabhängigen Leben vor, was ihnen jedoch fast verunmöglicht wurde, würde ein Auszug aus dem Elternhaus nämlich auf totales Unverständnis Seitens der Familie stossen, ja ein regelrechtes Familiendrama auslösen. Die Mutter hätte versagt, die Grossmutter hätte keinen Zuhörer mehr und die Enkel keinen Spielkamaraden. Die einzige Möglichkeit, der Familienkommune zu entrinnen sei es, in eine andere Stadt zu ziehen.
Eine andere Stadt. Oder gar ein anderes Land? Eins ist gewiss. Auch dort ist man vom Einfluss der Familie nicht verschont – sei es als Mexikaner oder als Schweizer.
Provecho!

“Flurina, du hältst deine Tortilla verkehrt rum.“ Ich wurde stutzig. Wollten die Kollegen mich wieder mal hochnehmen? Wie konnte ich diesen Kreis verkehrt halten? „Du hältst die falsche Seite nach oben“, erklärten sie mir. Ich war immer noch nicht sicher, ob ich das Ganze Ernst nehmen sollte. „Ihr wollt mir also sagen, dass eine Tortilla zwei verschiendene Seiten hat?“
Mexiko und Essen kann man nicht trennen. Den Mexikaner verbindet eine aufrichtige Liebe zu seinen Tortillagerichten, seinen Eintöpfen, seinen Frühstückspatten und unzähligen Chilesorten.
Die Tortilla stellt die Drehscheibe im mexikanischen Mahl dar. Ist sie nicht bereits integrierter Teil des Gerichts, so wird sie separat serviert – frisch geröstet versteht sich. Man zerkleinert infolge die Nahrungsmittel auf seinem Teller, verteilt sie auf der Tortilla, tröpfelt Salsa darüber und rollt das Ganze gekonnt zum essfertigem Paket. Die Herausforderung besteht im Verschlingen seiner Tortillarolle ohne zu viel Füllung hinauszukleckern zu lassen. Gebürtige Mexikaner lernen dies in ihren Kindertagen, während eingewanderte Schweizerinnen diese Kunst nur durch viel Disziplin und tägliche Übung erlangen.
Suppe darf bei keinem Mahl fehlen, was wohl erklärt, weshalb die Mexikaner so viele Ausdrücke für Suppe kennen. Auch in den 40 Grad warmen Tropen bekam ich damals heisse Suppe serviert. Meine Schweissdrüsen haben sich heute noch nicht davon erhohlt. Dagegen fehlt Salat gänzlich im klassischen mexikanischen Dreigänger. Überhaupt halten die Mexikaner nicht viel von Gemüse auf ihrer Tafel. Bohnen heisst die Antwort auf den Wunsch nach pflanzlicher Nahrung; gedünstet oder als Mus gehören sie zur täglichen Kost und sind wohl für den gesunden Toillettengang ihrer Konsumenten verantwortlich.
Reis als zweite Vorspeise habe ich nach dem zweiten Mal abgeklemmt. Allen Anpassungsbemühungen zum Trotz, ich kann mich nicht täglich mit Reis vollstopfen. Wenn schon das Gemüse fehlt, muss man sich durch gewissen Verzicht Fit halten.
Die Hauptspeise präsentiert sich – nebst Bohnen – aus Fleisch und dem eigentlichen Hauptakteur: der Sauce. Aus langweiligen Hühnerfonds zaubern mexikanische Köchinnen dank Chile und Kräutern die köstlichsten Tunken. Die Königin der Saucen ist jedoch die rote Mole. Weshalb man sie „rote“ nennt, obwohl sie pechschwarz daherkommt, konnte mir bisher noch niemand entlüften. Mole, das ist mehr als nur dickflüssige Beilage, Mole, das ist ein Gedicht. In stundenlanger Prozedur wird aus Schokolade, gerösteten Nüssen, Chile und unzähligen weiteren Zutaten eine scharfsüsse Köstlichkeit kreiert, die auch den skeptischen Koster im Sturm erobern wird. Mole kann ich hiermit jedem empfehlen, der möglichst schnell über seinen Liebesschmerz hinwegkommen will.

Das Ergebnis meiner Tortillauntersuchung kann ich hier übrigens nicht verraten. Sollte das Mysterium doch durch jeden selber entlüftet werden.

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