Samstag, 2. Februar 2008

Schnaagi – Town

Text für "Sihltaler", Jan 08

Mexico ist stressfreie Zone. Man eilt nicht durch das Leben wie die Europäer, von denen viele verfrüht mit Herzanfall in der Notaufnahme landen. Man geniesst den Augenblick, man macht das beste aus seinem Arbeitstag mit eingebauten Päuseli, man dehnt den Gang zum Laden an der Ecke aus mittels ausführlichem Schwatz mit dem Kassierer.
Das wichtigste Element des stressfreien mexikanischen Lebens aber ist die Kunst des Schlenderns. Mit zeitlupenähnlichem Schritt spaziert man seine Strecken ab, während der Sinn nicht im Erreichen des Ziels besteht, sondern im eigentlichen Beschreiten des Weges. Gemächlich setzt man einen Fuss vor den anderen, hakt beim Freund zu seiner Rechten ein, während man mit der Freundin zur Linken über die Schaufenstergestaltung diskutiert, an denen man gerade vorbeizieht. Man hält inne, betrachtet die Taschenauslage des ambulanten Händlers genauer oder erkennt in der Saftverkäuferin seine Nachbarin, mit der man natürlich unmittelbar ein paar Worte wechseln muss.
Diese Art der Fortbewegung verbindet alle zu einer glücklichen Familie von Schlendern, welche jeden einzelnen Schritt bewusst wahrnimmt und die sich nicht vom Tempofieber der nördlichen Welt irritieren lässt.
Aber was ist das? Da eilt jemand rasenden Schrittes über die schiefstehenden Trottoirplatten. Sie überholt Mütter mit Kindern an der Hand, zwängt sich zwischen am Strassenrand pausierende Busschauffeure durch, macht einen vorsichtigen Bogen um die am Stock gehende Rentnerin und wird schliesslich hinter dem Arm in Arm gehenden Teenagerpaar zum aprupten Stop gezwungen, wobei die Reaktionszeit gerade nochmals kurz genug war, um nicht in die Liebenden hineinzuprasseln. Sie scheint nervös, sucht eine Überhohlspur, doch vergeblich. Auf der einen Seite die sich aneinanderreihenden Essensstände, auf der anderen die neugierigen Menschentrauben vor dahinterliegenden Geschäften. Es bleibt ihr nichts übrig: sie muss den Schlendergang der Vorgehenden mitmachen. Dann endlich. Kurz vor dem Eingang in die Metrostation weitet sich der Weg. Unsere eilige Person nützt die Gelegenheit blitzschnell und kramt noch auf der Treppe ihr Ticket aus der Manteltasche. Doch noch bevor sie dieses entwerten kann, wird sie schon wieder des Fortsetztens gehindert. Eine dickes Hinterteil schwenkt sich gemütlich vor ihr her und schiebt sich zum selben Durchgang, durch den auch unsere Geschwinde wollte. Ungeduldig rennt sie schliesslich zum nächsten freien Ticketentwerter.
Doch ihr Leidensweg ist damit noch lange nicht beendet. Bei der Bergstation der Rolltreppe wird sie beihnahe eingesogen, weil die beiden Herren vor ihr nur zögerlich der Rolltreppe entsteigen. Die härteste Probe steht aber erst jetzt bevor: Sie muss es schaffen, hinter den im Schneckentempo die Metro besteigenden Passagieren in den Wagen zu gelangen, ohne von der sich schliessenden Türe eingeklemmt zu werden.
Und so schlendert die mexikanische Familie, tagein, tagaus ihres Weges. Und lässt sich auch durch das adoptierte schweizer Mitglied, das sich hartnäckig der Anpassung verweigert, nicht aus der Ruhe bringen.

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